Oper Frankfurt
Dirigentin Joana Mallwitz: „Mir selbst fällt jetzt nicht jeden Tag so auf, dass ich eine Frau bin“
by Judith v. SternburgJoana Mallwitz über das Privileg, authentisch und unverstellt arbeiten zu können, über die Suche nach der größtmöglichen Kraft des Ausdrucks und über Gabriel Faurés „Pénélope“, die sie am Sonntag an der Oper Frankfurt dirigieren wird.
Frau Mallwitz, am vergangenen Wochenende mussten Sie als Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg eine Situation bewältigen, wie sie einem nur die Oper abverlangt: Der Don-Carlos-Sänger fiel aus, der einzige Ersatz, der sich rasch genug fand, konnte die Partie von der Seite nur auf Italienisch singen, während Sie eine französische Fassung verwenden. Der Intendant musste spielen. Denken Sie dann: Wie konnte ich nur diesen Beruf ergreifen? Oder sind das die Herausforderungen, die Sie suchen?
Beides, würde ich sagen. Das sind ja auch die Abende, aus denen eine ganz besondere, nur dieses eine Mal mögliche Energie entstehen kann. Das Publikum hat getobt am Ende. Jeder merkt: Das ist live, es war nicht vorherzusehen, niemand kann sagen, was jetzt kommt. Ich hatte den italienischen Text natürlich nicht in meiner Partitur. Die Silbenanzahl ist anders, und eigentlich spreche ich innerlich den Text mit, wenn ich dirigiere. Extrem schwierig auch für die anderen Sänger, die alles auswendig machen müssen und in den Rezitativen auf den französischen Text des Kollegen eingestellt sind. Und es war keine Zeit zu proben. Wir hatten zwanzig Minuten, in denen wir zusammen in die Noten geschaut haben.
Bei einer Oper, in der viele Fassungen möglich sind.
Das war das große Problem. Wir spielen die große fünfaktige Version, die meistens auf Italienisch gemacht wird, nämlich nicht die Urfassung, sondern die letzte, aber bei uns eben auf Französisch. Es gibt fast niemanden auf der Welt, der das singen kann, drei, vier Leute. Wir haben also nur schnell über die Cuts gesprochen. Im letzten Akt wurde mir klar: Mist, da kommt jetzt noch ein Riesensprung und er weiß nichts davon. Ich habe versucht, ihm das zu signalisieren (Mallwitz macht mit zwei Fingern Scherenbewegungen), und er ist intuitiv gleich mitgesprungen. Das war super. Der vierte und fünfte Akt, das war ein unglaubliches Erlebnis für alle, der Tenor völlig in der „zone“, das Orchester total dabei.
Sie sind doch mit Sicherheit eine Perfektionistin. Aber in der Oper kann so viel schiefgehen.
Damit so ein Abend möglich ist, müssen im Vorfeld alle Beteiligten mit einer perfektionistischen Einstellung an die Sache herangegangen sein. Das Orchester und ich müssen uns so gut verständigt haben, dass wir im Notfall auch was anderes machen können. Die Sänger, Chapeau, müssen wahnsinnig gut vorbereitet sein. Das geht nur, wenn alle auf höchstem professionellen Niveau arbeiten.
Zur Person
Joana Mallwitz, 1986 in Hildesheim geboren, wurde mit 14 Frühstudentin an der Musikhochschule Hannover. 2006 kam sie als Repetitorin nach Heidelberg, 2007 war sie Kapellmeisterin. 2014 wechselte sie als Generalmusikdirektorin nach Erfurt, 2018 nach Nürnberg. Für die Saison 2018/19 wurde sie in der Fachzeitschrift „Opernwelt“ zur Dirigentin des Jahres gewählt. An der Oper Frankfurt
dirigiert sie Gabriel Faurés selten zu hörende „Pénélope“. Corinna Tetzel führt Regie, Paula Murrihy singt die Titelpartie. Premiere ist am 1. Dezember, 18 Uhr. www.oper-frankfurt.de
Gabriel Faurés „Pénélope“: Wie ist es möglich, dass sie, obwohl hochgelobt, so gar keinen Platz im Repertoire fand?
Das liegt, würde ich sagen, vor allem an der Zeit, in der sie entstand und uraufgeführt wurde, 1913. Ein paar Monate später kam „Sacre“ heraus, in derselben Stadt, am selben Theater. Da geriet „Pénélope“ dann schnell in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass es kein einfaches Werk ist, keine Oper, die von selbst funktioniert. Wir kennen Fauré als Komponisten von Kammermusik, Liedern, Klavierwerken, intimeren Formen.
„Pénélope“ ist seine einzige Oper.
... die er am Ende seines Lebens schrieb und die in seinem Schaffen eine Sonderstellung einnimmt. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder sofort darauf kommen würde, dass er der Komponist ist. Er hat experimentiert und ist in Gebiete vorgedrungen, die ihm unbekannt waren. Er hat es geschafft, das Liedhafte, das Feingezeichnete streckenweise auch auf die Opernbühne zu bringen. Die Klippen und Kanten für uns als Beteiligte entstehen vor allem, wenn er versucht, das groß zu instrumentieren. Das hat er sonst fast nie gemacht, nur das Requiem steht hier noch neben der „Pénélope“. Er war kein Opernpraktiker und das merkt man in der Arbeit mit dem Orchester.
Inwiefern?
Wir haben immens viel Zeit gebraucht, um zu entziffern, was er genau will. Manchmal gibt er den einen Instrumentengruppen genaue Anweisungen, den anderen aber nicht. Was bedeutet das, wie gehen wir damit um? Die Gesangsstimmen haben schon etwas Liedhaftes, es wird aber schwierig in dramatischen Momenten, wenn der Sänger zum Beispiel in die Tiefe geht, dort einer riesigen Instrumentation begegnet und im Fortissimo, wenn wir es wirklich spielen würden, untergehen müsste. Wenn wir alles genau so machen, wie Fauré es schreibt, funktioniert es nicht.
Wie sind Sie selbst an „Pénélope“ geraten?
Durch eine Anfrage des Hauses. Das ist schon ein bisschen her.
Sie kannten die Oper vorher auch nicht?
Nein, gar nicht. Ich hatte nicht mal die Noten und habe mir ein paar Aufnahmen angehört ….
Immerhin hat Jessye Norman für eine Aufnahme die Titelpartie gesungen, das kann neugierig machen.
Und vom Höreindruck her fand ich es eine spannende Sache, außerdem die Idee, einem Stück so unvoreingenommen zu begegnen. Also habe ich zugesagt.
Sie arbeiten hier mit einer Regisseurin zusammen. Ist das interessant für Sie?
Das ist ein Zufall. Es ist kein Qualitätsmerkmal, weiblich oder männlich zu sein.
Im FR-Interview vor sechs Jahren haben Sie darauf hingewiesen, wie angenehm es sei, dass andere Frauen vor Ihnen die Türen bereits aufgestoßen haben. Dirigentinnen fallen aber immer noch auf, oder?
Mir selbst fällt jetzt nicht jeden Tag so auf, dass ich eine Frau bin. Im öffentlichen Bild hat sich, denke ich, in den letzten Jahren dennoch viel getan. Eigentlich finde ich es absurd, dass es immer noch ein Thema ist, wenn ich sehe, wie früh zum Beispiel Simone Young bestimmte Dinge getan hat. Sie hat Eis gebrochen. Es dürfte überhaupt keine Rolle mehr spielen, denke ich dann. Auf der anderen Seite bin ich zugegebenermaßen jedes Mal erstaunt, bei wie vielen Sachen ich als Frau dann doch die erste bin. Entscheidend ist für mich, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem Dirigentinnen authentisch und unverstellt sie selbst sein können. Wir müssen uns nicht „männlich“ geben, was auch immer das sein soll. Ich kann ich selbst sein, und ich kann auch nur so arbeiten. Dass es für mich jetzt so schön läuft, dass ich tolle Sachen machen kann, bestätigt mir, dass mein Eindruck nicht täuscht.
In den Dirigierklassen soll es sich schon verschieben.
Ist das so?
Gerade las ich noch mal die Zahl: 42 Prozent in den Dirigierklassen des Wintersemesters 2016/17 seien Frauen gewesen, zehn Jahre zuvor habe der Frauenanteil bei 27 Prozent gelegen. Denkbar, dass das auch mit einem Rollenwandel des Berufs zu tun hat, oder? Vor Kurzem sagte Sylvain Cambreling just auf diesem Sofa, auf dem Sie jetzt sitzen, die Orchester seien immer besser vorbereitet, immer informierter und meinungsfreudiger. Als Dirigent müsse man immer mehr zu bieten haben, immer mehr wissen.
Das stimmt und hängt damit zusammen, dass man auf die Masse an Aufnahmen, die es inzwischen gibt, jederzeit über das Internet zugreifen kann. Musiker sind heute vertrauter auch mit unbekannteren Stücken. Am Ende ist aber der Dirigent natürlich der, der entscheiden muss, er ist der einzige, der die Partitur hat und im besten Fall auch tief verinnerlicht hat. Und natürlich reicht es nicht, alles zu wissen, um den Respekt des Orchesters zu bekommen. Man muss auch eine ungemein klare Idee von der jeweiligen Musik haben. Man muss die einzige für einen selbst mögliche Wahrheit finden. Und man muss diese als plastischen, klaren Plan so stark in sich tragen und durch Impulse und Körpersprache vermitteln können, dass sie zur Idee aller wird.
Geht das denn in den Proben: Die eine Wahrheit zu vermitteln, die eine Idee durchzuführen?
Ich darf keinen Plan von A bis Z haben, den ich bloß reproduzieren möchte. Das ist schon nicht mehr aktiv genug, da bin ich bereits einen Schritt hinterher. Ein Teil bleibt immer offen bis zu dem Punkt, wenn ich vor das Orchester trete und sehe, was von ihm ausgeht. Wie die Solo-Oboe klingt. Wie die Streicher miteinander agieren. Wie die Sängerin der Pénélope singt. Wie der Raum, wie die Bühne ist. Muss ich möglicherweise ganz stark eingreifen, um das überhaupt funktionabel zu machen oder kann ich spielen, wie ich lustig bin? Aber die große Idee muss trotzdem von Anfang an da sein, sie muss aus einem heraussprühen und sich übertragen. Sonst braucht man nicht vors Orchester zu treten.
Welche Rolle spielt die Inszenierung dabei? Die ja auch mit Ideen an Sie herantritt.
Darum liebe ich die Oper so: Es kommt alles zusammen. Im besten Fall arbeiten alle Teile, wir im Graben, die Ausstattung, die Personenregie, das Licht, alle auf denselben Moment hin: dass die größtmögliche Kraft des Ausdrucks entsteht. Das ist dann etwas, was nur die Oper kann. Ich liebe es, eng mit der Regie zusammenzuarbeiten, auch in den szenischen Proben zuzusehen. Vielleicht dachte ich im stillen Kämmerlein: Hier will ich mir Zeit lassen, die Passage besonders herauszustellen. Und dann merke ich, dass der Impuls der Regie ein ganz anderer ist. Dem will ich Rechnung tragen können. Dafür muss ich allerdings der Überzeugung sein, dass das wirklich Kraft hat.
Und wenn Sie denken: Ojemine?
Dann versuche ich, noch mal ins Gespräch zu kommen. Auch Vorschläge zu machen. Wenn das nicht hilft, wird es schwierig.
Vermutlich machen Sie angesichts Ihres jungen Alters viele Werke zum ersten Mal. Spielt das eine Rolle? Nicht die fünfte Produktion derselben Oper zu erleben?
Wenn man sich nicht auf ein ganz kleines Repertoire reduziert, wird das als Dirigent ohnehin das ganze Leben lang so bleiben. Das ist ja aber auch das Spannende an dem Beruf.
Wie bauen Sie sich Ihr eigenes Repertoire auf?
Für mich ist es ein großes Glück, dass ich in Erfurt und jetzt in Nürnberg auf der Seite bin, die mitentscheiden kann. Für das Konzertprogramm in Nürnberg bin ich ohnehin alleine verantwortlich. Drei Dinge sind mir wichtig: Mir ein breites Repertoire zu erarbeiten, und da fehlt mir noch einiges, das stimmt. Das zweite ist, nur das zu erarbeiten, was ich möchte. Ich will das Gefühl haben, dazu etwas zu sagen zu haben. Da gibt es schon Sachen, bei denen ich denke, das muss ich jetzt nicht machen, nur weil es ein wichtiges Stück ist.
Zum Beispiel?
Ich habe zum Beispiel noch keine Bruckner-Sinfonie dirigiert und habe derzeit auch noch nicht den Plan, es zu tun. Nicht weil ich Bruckners Musik nicht mag, ich verehre sie, aber anderes erscheint mir jetzt dringlicher. Das dritte ist, dass ich gerade bei den großen sinfonischen Werken sehr darauf achte, sie nicht nur einmal zu dirigieren. Einmal ist hier keinmal. Man lernt ein Stück auch auf der Bühne kennen. Wenn ich eine neue Sinfonie ins Repertoire nehme, will ich sie im nächsten Jahr, in den nächsten anderthalb Jahren wieder dirigieren. Bei der Oper liegt es etwas anders, da geht es immer auch um Anfragen wie jetzt hier in Frankfurt.
Sagen Sie dann schnell zu?
Das ändert sich mit der Zeit. Zum Glück bin ich inzwischen in der Situation, dass ich wählen kann: Welches Stück mit welchem Regisseur an welchem Haus.
Wenn man auf Ihre Karriere guckt, scheint alles so schnell zu gehen. Der Eindruck täuscht aber. Das liegt daran, dass Sie so früh angefangen haben. Aber mit den klassischen Stationen. Ist Ihnen das trotzdem manchmal unheimlich, wie glatt alles läuft?
Ich hatte zwölf Jahre Berufserfahrung, bevor ich GMD in Nürnberg wurde. Ich fühle mich dadurch gar nicht wie jemand, bei dem das sehr schnell kam. Früh ja, aber nicht schnell. Als ich in Heidelberg anfing, hatte ich keine Ahnung davon, wie der Dirigentenberuf in der Praxis funktioniert. Es zeigte sich, dass es für mich so genau richtig war. Ich bin fünf Jahre geblieben, obwohl da schon andere Angebote kamen. Aber dadurch hatte ich zum Beispiel noch die Möglichkeit, eine „Zauberflöte“ zu machen. Ich habe sie seitdem in vielen Produktionen, unter anderem in Erfurt und Kopenhagen dirigiert, und wenn ich damit im nächsten Jahr in Salzburg debütiere, kann ich aus diesem Erfahrungsschatz schöpfen.
Als Korrepetitorin haben Sie dort angefangen.
Und ich war echt jung, das stimmt schon. Damals habe ich das nicht wahrgenommen, aber wenn ich mir heute vorstelle, da stellt sich eine Neunzehnjährige vor ein Orchester, dann denke ich auch: Puh. Und es war schon als Korrepetitorin ein enormer Stress. „Eugen Onegin“ musste ich damals über Nacht lernen. Du hast an einem kleinen Theater so viel zu tun, du frisst das Repertoire regelrecht.
Sie sind eine sehr gute Pianistin, ein uneinholbarer Vorteil, wenn es schnell gehen muss.
Vor allem war es die Chance, überhaupt so früh ans Theater zu kommen. In meinem Vertrag stand schon „mit Dirigierverpflichtung“, aber damit war nicht gemeint, dass ich im dritten Monat bei einer „Madame Butterfly“-Premiere einspringen musste, weil der Dirigent krank geworden war. Danach hieß es: Das lief ja gut, wir machen dich zur Kapellmeisterin. Praktisch bedeutete das: Jetzt spielt du nicht nur andauernd, sondern du dirigierst auch andauernd. Eine harte Zeit, aber dreizehn Jahre später merke ich, auf wie viel ich nun zurückgreifen kann.
Wo läuft das alles hin?
Schwer zu beurteilen. Mein Ziel wäre es, immer mehr an den Orten und mit den Menschen zu arbeiten, bei denen es richtig passt. Da kann was Großes entstehen.
Als Katharina Wagner im Sommer ankündigte, dass der neue „Holländer“ in Bayreuth 2021 von einer Frau dirigiert werden wird, werde ich nicht als einzige an Sie gedacht haben, zumal Sie kurz zuvor einen aufsehenerregenden „Lohengrin“ in Nürnberg herausgebracht hatten. Können Sie dazu schon was sagen?
Ich kann sagen, dass ich nicht die besagte Frau für 2021 bin. Es hat eine andere Anfrage aus Bayreuth gegeben, die ich aufgrund einer Kollision mit meinem Engagement bei den Salzburger Festspielen absagen musste. Aber natürlich würde ich mich riesig freuen, wenn noch einmal gefragt würde.
Interview: Judith von Sternburg