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Man kann vieles an wenigem lernen, erklären Marina Münkler und Herfried Münkler.© AFP
Deutsche Gesellschaft

Marina und Herfried Münkler: „Abschied vom Abstieg“ – Aufregung als Ersatz für Politik

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Seit Jahren hören wir, dass es mit uns bergab geht. Das ist eigentlich ganz bequem. Zu „Abschied vom Abstieg“ von Marina und Herfried Münkler.

Unentwegt schrillt die Alarmsirene. Als die AfD gegründet wurde, war in deren Augen der Euro unser Untergang, dann waren es die Flüchtlinge. Jetzt bekommen wir wieder einmal einen Schreck, weil unsere Wachstumsrate nachlässt. Von der anderen Seite des politischen Spektrums wird uns Angst gemacht mit der Klimaentwicklung.

Jedes Mal, wenn wir die Zeitung aufschlagen, ist Endzeitstimmung. Wenn Juwelen aus dem Grünen Gewölbe geraubt werden, dann ist das ein Anschlag auf unsere – offenbar bei jedem noch so nichtigen Anlass zusammenzuckende – Identität. Nichts, was nicht zu einer Katastrophenmeldung gemacht würde. Geradezu lustvoll lassen wir uns von einer in die nächste jagen. Wir sollen endlich aufhören damit und mit offenen Augen und kühlem Verstand auf die Verhältnisse blicken, finden Herfried und Marina Münkler in ihrem neuesten Buch.

Das Ehepaar – sie ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden, er war bis 2018 Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität in Berlin – sieht inzwischen die größte Gefahr darin, dass wir unserem eigenen Alarmismus in die Falle gehen. Der erfordert, die Probleme möglichst groß und bedrängend darzustellen. Die bisherige Politik muss, so heißt es überall und bei inzwischen fast jedem Anlass, sofort radikal geändert, das Steuer in der nächsten Minute herumgerissen werden. Wer das nicht tut, erscheint bestenfalls als halbherzig. In Wahrheit aber als völlig ungeeignet, die drohende Gefahr abzuwenden. Ihm droht die Verachtung des Wählers.

Wer sich in diesem Lärm Gehör verschaffen will, der muss die Alarmglocken lauter läuten als die anderen. Oder aber, er macht es ganz schlau und flüstert uns seine bedrohliche Nachricht ins Ohr. Das versuchen die Münklers: „Wer den Abstieg dramatisiert“, schreiben die beiden, „wird alle Optionen des Abschieds vom Abstieg als unzureichend zurückweisen. So wird der Alarmismus zum Komplizen dessen, wovor er gewarnt hat.“

Wir müssen uns befreien von der uns in die Tatenlosigkeit treibenden Eskalation der Katastrophenvisionen. Wir brauchen Ruhe, um uns eine Übersicht über unsere wirkliche Lage zu verschaffen. Vor allem aber brauchen wir Ruhe, um ihr Eintritt in unsere Gehirne und Gemüter zu verschaffen. Die Hysterie, mit der wir uns auf jedes Problem stürzen und daraus ein unlösbares machen, hat, so komisch sie ist – da hat das Professorenehepaar völlig recht, – selbstmörderische Züge. Sie haben sich jetzt aufgemacht und wollen uns Lemminge aufhalten bei dem Versuch, uns in all die ja wirklich verfügbaren Abgründe zu werfen.

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Marina Münkler / Herfried Münkler: Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland. Rowohlt Berlin, 2019. 512 S., 24 Euro.

Die Münklers, geboren 1951, resp. 1960, haben ihre Erfahrungen gemacht mit hysterischen Aufwallungen in der Geschichte der Bundesrepublik: Terrorismus und Waldsterben, Nachrüstung und Atomkraftwerke. Das waren und sind alles reale, Leben bedrohende Gefahren. Aber die Art und Weise, wie man ihnen zu Leibe rücken wollte, war immer wieder selbst lebensgefährlich. Man erinnere sich daran, wie der Philosoph Günther Anders (1902–1992) 1987 dazu aufforderte, die Beförderer der Atompolitik zum Freiwild zu erklären, gegen das mit Attentaten vorgegangen werden solle.

Im Jahre 2008 veröffentlichte Herfried Münkler „Die Deutschen und ihre Mythen“. Er beschrieb darin so beredt mehr als ein Dutzend deutscher Mythen, dass sich mir der Eindruck aufdrängte, „Die Deutschen und ihre Mythen“ sei eine Art Vorstudie zu einem Buch, in dem Münkler höchstselbst dem wiedervereinigten Deutschland demnächst seine eigene Gründungserzählung schreiben werde. Das war ein gewaltiger Irrtum.

Ich lese das neue Buch des Ehepaars Münkler „Abschied vom Abstieg“ auch als einen Abschied vom Mythos. Herfried Münkler wartet nicht mehr auf eine neue Erzählung. Er scheint auch nicht mehr daran zu glauben, dass große Entwürfe mit großen Erzählungen verkauft werden müssen. Dieses Buch betrachtet die immer wieder eingeforderten Hauruck-Erzählungen mit detailfreudiger Skepsis. Münkler war als Professor für die Theorie der Politik immer am Überblick interessiert, am Zusammenhang, in dem die Welt sich bewegt.

Natürlich wusste Münkler immer, dass sich Politik auf konkrete Zeitpunkte und Räume konzentrieren muss. Ich weiß nicht, wie weit er sich in seiner Tätigkeit als Politikberater darauf einließ oder ob er mehr seine Aufgabe darin sah, der Politik den Ausblick in die weite, von ihr in jenem Augenblick gerade nicht gesehene Welt zu ermöglichen.

In diesem Buch aber haben sich die Münklers zur Beschränkung entschlossen. Die drei großen Kapitel des Buches konzentrieren sich auf Bildungspolitik, Demokratie und Europa. Nun, das letzte Kapitel heißt gut münklerisch: „Deutschland, Europa und die neue Weltordnung“. Also wirklich kein Piecemeal-Ansatz.

Aber lässt sich über den Zustand Deutschlands und über die Mittel zu seiner möglichen Verbesserung tatsächlich etwas Sinnvolles sagen ohne sich, von kurzen Bemerkungen im Europa-Kapitel abgesehen, einzulassen auf die Aussichten des Industrie- und Service-Standortes Deutschland – technologisch und ökonomisch? Wie steht es mit der Rolle der naturwissenschaftlichen Forschung in Deutschland? Ist das alles okay? Kann man über die Veränderung unseres Bildungssystems sprechen, ohne sich zu überlegen, was da zu tun ist?

Ist die Schwäche des deutschen Internetzugangs nicht symptomatisch? Aber das ist nur die technologische Seite. Was bedeutet das Internet für „Bildung für alle“? Was für die Demokratie? Gehört das nicht auch auf „Eine Agenda für Deutschland“? Das ist der Untertitel des Buches. Was ist also zu tun?

Das Bildungskapitel beschäftigt sich unter anderem mit Fragen wie „Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit“. Über der Agenda steht, die Münklers kommen aus Hessen: „Bildung für alle“. Auch hier steht jener Satz, der zum basso continuo des Buches gehört: „Fast scheint es, man wolle sich aufregen, damit man nichts zu ändern braucht.“ Aufregung als Politikersatz.

Und die Vorschläge? Zunächst, so die Münklers ganz richtig, „muss die Frage beantwortet werden, was alle in der Schule lernen sollten“. Nein, nein, nicht, was alles, sondern was alle gelernt haben sollten. Die Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens – ist die Antwort der Münklers. Ich weiß, dass es derzeit Abiturienten gibt, die dieses Grundschulminimalprogramm nicht schaffen.

Die Münklers fordern mehr Lehrer, anderen Unterricht und dafür mehr Geld. „Bildung hängt nicht von der Quantität der Lernstoffe ab, sondern von deren qualitativer Durchdringung. Deshalb sollten Lehrpläne von ihrer Überfrachtung befreit werden. Es muss Raum zum Denken bleiben und man kann vieles an wenigem lernen. Aus diesem Grunde sollte man sich auch vom Konzept der allgemeinen Hochschulreife verabschieden.“ Der Unterschiedlichkeit der Begabungen und Interessen könnte so viel besser entsprochen werden. „Schule muss, wenn sie wirklich gut sein soll, Schülerinnen und Schülern sowohl Wissensgegenstände als auch Erfahrungen vermitteln, mit denen sie sonst nicht konfrontiert werden. Hier könnte man nicht nur von Humboldt, sondern auch von der Polytechnischen Oberschule der DDR lernen. Für jeden einzelnen Schüler muss die Schule die Frage beantworten können, wozu er sich bilden soll.“

Schülerinnen und Schüler sollen gerade nicht die Schulzeit auf einem Stuhl verbringen, sondern Dinge herstellen, etwas schaffen, sich und andere bewegen. Es geht, so lese ich das, nicht darum, einen Lehrplan abzuarbeiten, sondern die jungen Leute sollten sich in möglichst unterschiedlichen Situationen als Personen und in der Gemeinschaft erfahren können.

Neben der Kritik am Alarmismus, also an unserer permanenten Liebäugelei mit der Katastrophe, gibt es für die Münklers, wenn sie sich dem zuwenden, was zu tun ist, ein weiteres zentrales Stichwort: Gemeinwohlorientierung. Der Begriff hat in dem Buch eine polemische Stoßrichtung. Nicht etwa gegen jene oberste Schicht in der sozialen Hierarchie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten einen immer größeren Anteil am Volkseinkommen angeeignet hat.

Die Münklers wenden den Begriff der „Gemeinwohlorientierung“ gegen den der „Gerechtigkeit“: „Anders als Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich häufig gegen bestimmte, als ungerechtfertigt privilegiert beschriebene Gruppen richten, haben Gemeinwohlorientierungen den Vorzug, dass sie alle Angehörigen einer Gesellschaft im Blick haben, von allen aber auch gleichermaßen verlangen, dass diese ihre eigenen Interessen nicht absolut setzen.“

Was heißt hier absolut? Das durchschnittliche Nettogehalt eines deutschen Arbeitnehmers liegt bei rund 1890 Euro monatlich. Er ist sehr schnell bei einem Betrag angekommen, bei dem es für ihn ums Überleben geht. Er steht dann, wenn das Wort irgendeinen Sinn hat, an einer absoluten Grenze. Das reichste Tausendstel der Bevölkerung, etwa 80 000 Personen, ist vermögender als die ganze ärmerer Hälfte der deutschen Bevölkerung, etwa 40 Millionen Personen, zusammengenommen. Ist das eine Gerechtigkeits- oder eine Gemeinwohlfrage? Oder womöglich beides? Wo liegt das Gemeinwohl, wenn ein Tausendstel der Bevölkerung reicher ist als deren ärmere Hälfte?

Ich weiß auch, dass über Zehntausende, womöglich Hunderttausende von Jahren menschlicher Geschichte kaum jemand an solchen Verwerfungen Anstoß nahm. Es gab immer wieder Aufstände und Rebellionen, aber so beredt in deren Verlauf die Unterschiede auch dargestellt wurden, sehr bald stellten sich die alten Umstände wieder her. Aber kann man wie die Münklers von „Bildung für alle“ sprechen und gleichzeitig, wenn es um die Frage der Demokratie geht, die ökonomische Spaltung der Gesellschaft hinnehmen?

Hinnehmen ist zu schwach. Es geht den beiden um deutlich mehr. Die letzten Sätze des Demokratiekapitels lauten: „Eine kluge und weitsichtige Politik muss sich von den emotionalen Erregungswellen des Augenblicks fernhalten und in der Lage sein, moralische Paradoxien auszuhalten, etwa wenn sie den Gerechtigkeitsbegriff hintanstellt und mit Gemeinwohlvorstellungen arbeitet, die eher den Eliten als den gewöhnlichen Bürgern naheliegen.“ Münklers „Gemeinwohl“ scheint gut geeignet, die Gesellschaft zu zerreißen.