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Versorgung eines Frühchens: Am Fuß ist eine Sonde zur Messung der Sauerstoffsättigung im Blut befestigt.© Imago Images
Gesundheit

Notruf der Kinderkliniken

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Es fehlt an Geld und an Ärzten: Immer wieder müssen Einrichtungen für die kleinsten Patienten schließen. Die flächendeckende kindermedizinische Versorgung in Deutschland ist gefährdet.

Rund 45 Minuten Fahrtzeit zeigt Google Maps für die Strecke von Parchim nach Schwerin an. Im morgendlichen Berufsverkehr kann die Fahrt in die Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns aber auch schon einmal eine knappe Stunde dauern. Nastja Lange war das bis Anfang Juni egal. Doch seitdem an Pfingsten die Kinder- und Jugendheilkunde der AsklepiosKlinik in Parchim geschlossen wurde, müssen sie und alle anderen Eltern in der Kreisstadt diese Fahrtzeit einplanen, um ihre Kinder im Notfall in eine Kinderklinik zu bringen. „Diese Zeit kann über Leben und Tod entscheiden“, sagt Lange. „Was, wenn jemand mehrere Kinder hat oder gar kein eigenes Auto?“ Für die 24-jährige Studentin ist klar: Die Kinderstation in Parchim muss bleiben.

Als Grund für die Schließung wurden im Juni Krankheitsfälle angegeben. Weil in der Folge aber vier der fünf Ärzte auf der Kinderstation gingen, blieb die Abteilung bis heute geschlossen. Obwohl die Klinik nach Angaben von Pressesprecher Mathias Eberenz über Monate nach Ärzten gesucht habe und dabei mit verschiedenen Anzeigen und Headhuntern einen immensen Aufwand betrieben habe, meldeten sich keine Fachärzte. „Wir hatten nicht eine Bewerbung“, beklagt er die Situation und beteuert: „Wir bedauern das sehr, denn der Erhalt der kindermedizinischen Versorgung liegt uns am Herzen.“ Als Träger habe man aber alles versucht und sei die Extrameile gelaufen. Jetzt sehe man sich nicht mehr in der Verantwortung. Die Politik sei gefragt, so Eberenz.

Auch Lange fand, die Politik sei gefordert und startete auf Change.org eine Petition. Mittlerweile haben mehr als 49 000 Menschen unterschrieben. Und die Politik wurde aktiv. Landesgesundheitsminister Harry Glawe gibt seit Wochen immer wieder öffentliche Statements für den Erhalt der Kinderstation ab und verhandelte zuletzt Mitte November in Hamburg mit der Konzernleitung von Asklepios. In den regionalen Medien verbreitete er nach dem Gespräch Hoffnung, und aus seinem Ministerium heißt es zu den Gesprächen: „Im Mittelpunkt stand, die medizinische Versorgung vor Ort weiter zu sichern. Wir sind auf einem guten Weg.“

Woher Glawe seinen Optimismus nimmt, weiß man bei Asklepios allerdings nicht: „Wir haben im Moment keine Perspektive für Parchim. Es ist nicht wahrscheinlich, dass wir eine kurzfristige Lösung finden werden“, sagt Sprecher Eberenz. Doch weil der Minister angekündigt hat, im Januar Ergebnisse zu präsentieren, warte man ab, was passiere.

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Wenn schon die Kleinsten schwer krank sind: Operation in einem Kinderkrankenhaus.© Imago Images

Neben vorübergehenden Schließungen von Kinderkliniken werden immer wieder auch Stationen endgültig geschlossen. Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge sank die Zahl der Krankenhäuser mit einer Fachabteilung Kinderheilkunde zwischen 2005 und 2017 von 375 auf 354 Einrichtungen.

Außer dem Ärztemangel haben Kinderkliniken in Deutschland, so die einhellige Meinung von Krankenhausgesellschaften, Krankenkassen und Fachverbänden, noch mit anderen strukturellen und vor allem finanziellen Problemen zu kämpfen. So seien in der Pädiatrie die Vorhaltekosten besonders hoch, sagt Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Als Beispiel nennt sie Infektwellen, bei denen die Stationen komplett belegt seien. „Man muss also für solche Fälle Kapazitäten vorhalten, will aber in den Zwischenzeiten keine leeren Betten haben.“ Die hohe Notfallquote und der besonders hohe Zeit- und Personalbedarf in der Kindermedizin erschwere die Planbarkeit, resümiert Krägeloh-Mann. „In der Pädiatrie liegen die Fixkosten bei 40 Prozent, in der Erwachsenenmedizin sind es 20 Prozent.“

Für Jochen Scheel, Geschäftsführer der Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und -abteilungen in Deutschland (GKIND), ist die derzeitige Vergütung stationärer Krankenhausleistungen über das DRG-Fallpauschalensystem das „Kernproblem“. Während eine Durchschnittsklinik die Vorhaltekosten über die Pauschalen refinanzieren könne, seien die kinder- und jugendmedizinischen Einrichtungen erheblich benachteiligt, argumentiert er.

Dazu komme, so Scheel, dass „pädiatrische Abteilungen mit circa 400 bis 500 unterschiedlichen DRGs ein weit überdurchschnittlich breites Leistungsspektrum abdecken, wohingegen das Durchschnittsspektrum in der Erwachsenenmedizin unterhalb von 200 DRGs liegt. Das erhöht zwangsläufig die Vorhaltekosten.“

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Nastja Lange engagiert sich für den Erhalt einer Kinderklinik in Parchim in Mecklenburg- Vorpommern.© Privat

Berechnungen der GKIND zufolge müssen Kinderabteilungen pro Jahr mindestens 1800 bis 2000 stationäre Patienten betreuen, um ihre Vorhaltekosten auskömmlich zu finanzieren. Scheel sagt: „Kleine Abteilungen in ländlichen Regionen, die diese Fallzahl nicht erreichen können, machen mit jedem Fall, den sie weniger haben, zwangsläufig Verlust.“ Ob die Kindermedizin in Parchim Verluste geschrieben hat und ob diese auch ein Grund für die Schließung sind, ist unklar. Der Konzern schweigt bei Fragen nach der finanziellen Situation und verweist auf Betriebsinterna. Doch die Fallzahlen von circa 500 „kleinen Patienten“ im Jahr 2018 und rund 450 Fällen hochgerechnet auf das Jahr 2019, sprechen zumindest in Bezug auf die erste Vermutung Bände.

Wie die kindermedizinische Versorgung vor allem in bevölkerungsschwachen Regionen zukünftig finanziert werden kann, ist derzeit offen. Der Fachverband DGKJ und die GKIND haben im Sommer 2019 gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Spitzenverband der Krankenkassen ein Arbeitspapier verfasst, dessen Vorschläge nun im Gemeinsamen Bundesausschuss, dem Spitzengremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, verhandelt werden sollen. Es sieht unter anderem Sicherstellungszuschläge für bedarfsnotwendige Krankenhäuser mit Kinderfachabteilungen vor, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen. „Dabei würde es sich um einen Betrag von X Euro handeln, den Krankenhäuser unter bestimmten Bedingungen zusätzlich zu den Fallpauschalen bekommen“, beschreibt Ann Marini, stellvertretende Pressesprecherin des GKV-Spitzenverbandes, den Vorschlag. Sie erklärt jedoch auch, dass die Umsetzung mindestens bis 2021 dauern werde.

Doch auch eine auskömmlichere Finanzierung löst das Parchimer Problem des Ärztemangels nicht. Landesgesundheitsminister Glawe will im Januar 2020 seine Lösungsvorschläge für die Kinder- und Jugendabteilung präsentieren. Darüber, wie sie aussehen könnten, will sein Ministerium noch keine Informationen herausgeben. Für DGKJ-Präsidentin Krägeloh-Mann wäre ein Ansatzpunkt, die Rahmenbedingungen für Kinderärzte zu ändern: „Es war schon früher nicht attraktiv, zwölf Stunden zu arbeiten, aber heute will das einfach keiner mehr.“ Weil in der Pädiatrie zudem besonders viele Frauen tätig seien, regt sie an, Modelle zu schaffen, in denen junge Kinderärztinnen nach einer Schwangerschaft wieder schneller in den Beruf einsteigen können.

Krägeloh-Mann hält es für wahrscheinlich, dass die notfallmedizinische Versorgung in strukturschwachen Gebieten zukünftig ambulant und über Verbundprojekte gelöst werden muss. „Wenn man bereit ist, flexiblere Modelle zu fahren, und das Heil nicht nur in festen Stationen sieht und jede kleine Kinderklinik erhalten will, dann ist die flächendeckende kinder- und jugendmedizinische Versorgung nicht gefährdet“, sagt sie.

Auch der Vorstandsvorsitzende von Asklepios, Kai Hankeln, denkt in diese Richtung. Anfang November schrieb er in einem Beitrag für den „Tagesspiegel“: „Im Rahmen eines Strukturfonds für zu schließende Kliniken können ambulante Folgekonzepte entwickelt werden, die langfristig eine optimale Gesundheitsversorgung sicherstellen.“

Für Nastja Lange ist das Konzept einer ambulanten Versorgung vor Ort hingegen nicht zu Ende gedacht. Sie weist darauf hin, dass Notfälle dann in andere Krankenhäuser transportiert werden müssten. Die wohnortnahe Behandlung sei aber auch aus Gerechtigkeitsgründen wichtig. Lange gibt zu bedenken: „Gerade diejenigen, die nicht so viel Geld haben, können es sich vermutlich gar nicht leisten, jeden Tag nach Schwerin zu fahren, um ihr Kind zu besuchen.“