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dpa/Adrian Bradshaw/epa Eine Militärparade in Peking

Analyse unseres Partner-Portals "Economist": Trump wird nervös: China schlägt in der Atompolitik einen gefährlichen Weg ein

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Der folgende Inhalt wird veröffentlicht von The Economist Er wurde von der FOCUS-Online-Redaktion nicht geprüft oder bearbeitet.*

"Vor einem Nuklearkrieg habe ich keine Angst", polterte der chinesische Revolutionsführer Mao Zedong einst auf einem Moskaubesuch im Jahre 1957. Mao wies seine Gesprächspartner darauf hin, dass selbst wenn die Hälfte seiner Bevölkerung einem radioaktiven Inferno zum Opfer fallen würde, noch immer 300 Millionen weitere Chinesen am Leben bleiben würden.

Seine sowjetischen Gastgeber, ihrerseits kaum bekannt für ihre weichherzige Wertschätzung der Menschenrechte, zeigten sich schockiert. Doch Maos Nonchalance zum Trotz tat China es den Amerikanern und Russen nicht nach, als diese sich in den drei darauffolgenden Jahrzehnten immer weiter in ein nukleares Wettrüsten hineinsteigerten.

China macht nukleares Wettrüsten nicht mit

Militärisch gilt China zwar als Riese, aus atomarer Sicht ist das Land aber vergleichshalber ein echter Zwerg. Mehr als die Hälfte der weltweiten Steigerungen von Militärausgaben lassen sich zwar direkt auf Peking zurückführen. Der Anteil der chinesischen Atombomben am weltweiten Gesamtarsenal beträgt jedoch nur etwa 2 Prozent. China verfügt über etwa 290 nuklearfähige Bomber, also etwa dieselbe Anzahl wie Frankreich oder Großbritannien. Zudem verfügt Peking über nur wenige funktionsfähige Trägersysteme. Laut der Forschungsgruppe "Federation of American Scientists" soll China insgesamt weniger als 90 Abschussrampen für landgestützte Flugkörper unterhalten (in Amerika sind es 400) und insgesamt nur etwa 20 nuklearfähige Flugzeuge besitzen (Amerika verfügt über 66).

Chinas nukleare Bescheidenheit erweckt aber auch aus anderen Gründen internationales Aufsehen. Amerika und Russland halten ihre Waffensysteme stets auf höchster Alarmstufe, viele Raketen sind dort auch in Friedenszeiten immer mit nuklearen Sprengköpfen bestückt. Beide Länder behalten sich das Recht auf einen nuklearen Erstschlag vor. Und sowohl Moskau als auch Washington verfügen über zahlreiche taktische Nuklearwaffen, die statt gegen Städte auch auf konventionellen Schlachtfeldern angewandt werden können.

Seit mehreren Regierungsperioden ist Umgang mit Atomwaffen konstant geblieben

Die Raketeneinheit der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) scheint an derartigen Waffen kein Interesse zu haben. Chinesische Interkontinentalraketen sind größtenteils nicht mit Sprengköpfen bestückt, obwohl sie dadurch im Krisenfall nur sehr viel langsamer zum Einsatz kommen können. Peking folgt zudem einer selbst auferlegten "No-First-Use"-Doktrin, was bedeutet, dass China seine Nuklearwaffen nur als Antwort auf den Atomschlag eines anderen Landes anwenden würde (obwohl amerikanische Offiziere stark an der Ernsthaftigkeit dieser Doktrin zweifeln). Zudem besitzt das Land keine taktischen Nuklearwaffen, womöglich auch, weil es davon ausgeht, dass die Anwendung dieser Waffenart einen konventionellen Konflikt schnell atomar eskalieren lassen könnte.

China vertritt insgesamt eine recht konservative Philosophie der nuklearen Abschreckung. "Chinas Herangehensweise an Atomwaffen ist von Mao Zedong bis hin zur Ära Xi Jinpings bemerkenswert konstant geblieben," erklären Fiona Cunningham von der George Washington University und Taylor Fravel vom Massachussets Institute of Technology. "China bemüht sich, ein kleinstmögliches Nukleararsenal zu unterhalten, das einen Erstschlag überstehen und in einem darauffolgenden Vergeltungsschlag angewandt werden könnte." Doch was in der Vergangenheit noch als hinreichende Kapazität galt, könnte Politikern in Peking schon bald nicht mehr ausreichen.

Raketen, die innerhalb einer Stunde jeden Ort des Planeten erreichen können

Als US-Präsident George W. Bush im Jahre 2002 den dreißig Jahre alten ABM-Vertrag aufkündigte, zeigte China sich höchst alarmiert. Die von Bush zur Entwicklung freigegeben Raketenabwehrsysteme hätten nur geringe Chancen, tausende simultan abgefeuerte russische Raketen abzufangen. Eine vergleichsweise kleine Menge an aus China abgefeuerten Nuklearwaffen könnte das neue System aber durchaus erfolgreich aus der Luft holen. Barack Obama investierte ebenfalls stark in die Raketenabwehr.

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dpa/Patrick Semansky/AP/dpa US-Präsident Donald Trump

Donald Trump hob die Aufgaben dann sogar noch weiter an. Die USA gaben 2019 mehr als 10 Milliarden Dollar für ihre Raketenabwehrsysteme aus, und entwarfen exotische Entwicklungspläne, so beispielsweise für eine weltraumbasierte Laserkanone zur Raketenabwehr. Besonders verärgert zeigte China sich aber über die amerikanische Überstellung eines THAAD-Raketenabwehrsystems nach Südkorea im Jahre 2017. Das Radarpotential dieser Anlage reiche, laut chinesischen Experten, bis auf das chinesische Festland und könne deshalb dabei helfen, echte Sprengköpfe von bloßen Lockvögeln zu unterscheiden.

Zur etwa selben Zeit intensivierten die Amerikaner ebenfalls stark in konventionelle Langstreckenraketen, die jeden Ort des Planeten innerhalb von nur einer Stunde Flugzeit erreichen können sollen. Das Pentagon steckte zudem auch viele Milliarden US-Dollar in die Entwicklung von Überschall-Gleitern (China baut ähnliche Gleiter, deren Reichweite jedoch nicht an die der amerikanischen Flieger heranzukommen scheint).

China reagiert auf Entwicklungen aus den USA

China befürchtet, dass Gleiter dieser Bauart einen großen Teil des Abschreckungspotentiales seiner eigenen Sprengköpfe und Abschussysteme zunichtemachen könnten. Selbst rudimentäre amerikanische Raketenabwehrsysteme könnten einen "verstreuten," aus den überlebenden chinesischen Nuklearwaffen bestehenden Vergeltungsschlag nach einem erfolgreichen Erstschlag wohl leicht abwehren. Zahlreiche US-Strategen gehen davon aus, dass eine solche Abwehrstrategie – die in Fachkreisen als "Schadensbegrenzung" bezeichnet wird – einer Situation der gegenseitig zugesicherten Zerstörung (MAD) vorzuziehen wäre. Die Vereinigten Staaten glauben, dass derartige technologische Möglichkeiten ihnen im Krisenfall einen psychologischen Vorteil gegenüber Peking verschaffen könnten.

In Reaktion auf die amerikanischen Entwicklungen scheint China sich langsam aus seiner nuklearen Verpuppung zu lösen. Zum einen gestaltet das Land seine atomaren Waffensysteme zunehmend flinker. Bei einer Militärparade zur Feier des 70. Jahrestages der kommunistischen Herrschaft am 1. Oktober galt ein Großteil der medialen Aufmerksamkeit der neuen DF-41 Rakete. Diese gilt als die erste sowohl mobile und daher auch leicht zu versteckende chinesische Interkontinentalrakete, die theoretisch einen jeden Teil des amerikanischen Festlandes in Minutenschelle erreichen könnte.

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Pan Yulong/XinHua/dpa Eine Militärparade mit konventionellen Raketem von Typ Dong Feng-17 findet zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China statt

Zudem lassen sich in die neuen chinesischen Raketen auch eine größere Menge an nuklearen Sprengköpfen einführen, was die Verwirrung und Überwältigung etwaiger Raketenabwehrsysteme um ein Vielfaches vereinfachen dürfte. Ebenfalls arbeitet man in China mit Nachdruck an der Entwicklung von U-Boot-gestützten ballistischen Flugkörpern mit verlängerter Reichweite. Diese würden es den Chinesen ermöglichen, das amerikanische Festland aus den eigenen, vergleichsweise sicheren Gewässern heraus anzugreifen.

USA wird nervös

Da die Produktion neuer Flugkörper auch die Produktion zusätzlicher Sprengköpfe erfordert, beschleunigte China zuletzt auch den Ausbau seines regulären Atomwaffenarsenals. Die chinesische Armee "hat ihr Nukleararsenal im Laufe des letzten Jahrzehnts verdoppelt, und es sieht ganz danach aus, als würden sie es im Laufe der nächsten zehn Jahre noch einmal verdoppeln wollen," erklärte Admiral Michael Brooke, der Leiter der amerikanischen militärischen Aufklärung, im vergangenen August. 600 nukleare Sprengköpfe machen zwar immer noch nur etwa die Hälfte dessen aus, was Amerika und Russland in ihren Arsenalen lagern. Eine derartige Feuerkraft würde aber trotzdem den Druck auf China erhöhen, in Rüstungskontrollgespräche mit anderen Atommächten einzutreten.

Während China seine nuklearen Abschreckungskapazitäten also weniger anfällig für Präventativschläge und fähiger im Bezug auf die Umgehung von Abwehrsystemen gestaltet, wird man in Amerika zunehmend nervöser, erklärt Caitlin Talmadge von der Georgetown University. Wenn Amerika nicht mehr darauf hoffen könne, chinesische Raketen mithilfe seines Raketenabwehrsystems abwehren zu können, dann könne Washington den Chinesen nicht mehr wie gewohnt mit Nuklearschlägen drohen, ohne dabei die Sicherheit seiner eigenen Städte zu gefährden. Amerikanische Außenpolitiker befürchten, dass dies die chinesische Hand stärken und amerikanische Alliierte wie Japan oder Taiwan in Zukunft nur noch nervöser machen könnte.

Aufrüstungsspirale könnte losgetreten werden

Amerikanische Führer könnten dann "den Wettbewerb weiter anheizen" und mehr Geld für die Raketenabwehr und Angriffswaffen ausgeben, um ihre ehemalige Überlegenheit wieder herzustellen, meint Caitlin Talmadge. Dies könnte China zu einer weiteren Beschleunigung seiner nuklearen Aufrüstung bewegen. Dadurch könnte im Endeffekt eine Aufrüstungsspirale losgetreten werden. "Der nukleare Wettstreit zwischen China und den USA wird sich mit allergrößter Sicherheit auch weiterhin verschärfen," schlussfolgert die Forscherin.

Ein derartiger Wettstreit könnte sich besonders gravierend auf die internationale Sicherheit auswirken, da beide Seiten eine fundamental unterschiedliche Auffassung der Nuklearstrategie vertreten, wie Cunningham und Fravel in einem in der Zeitschrift "International Security" erschienenen Artikel darlegen.

Chinesische Politiker seien einerseits stark überzeugt davon, in einem konventionellen Krieg eine nukleare Wende abwenden zu können, wohingegen die Amerikaner sich zu sicher seien, einen bereits ausgebrochenen Nuklearkrieg an einer weiteren Ausbreitung hindern zu können. Verschlimmernd kommt zu dieser Lage hinzu, dass die beiden Seiten über noch keinen etablierten Atomwaffendialog verfügen, zum Teil auch weil China sich mit offiziellen Informationen zu seinem Waffenarsenal bisher stark zurückhielt. Bisher waren es hauptsächlich die chinesischen Militärparaden, die in vielerlei Hinsicht für sich selbst sprachen.

Dieser Artikel erschien in der China-Rubrik der neuesten Printausgabe vom "The Economist" unter dem Titel "China's nuclear arsenal was strikingly modest, but that is changing" und wurde von Lukas Wahden aus dem Englischen übersetzt. 

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