https://p5.focus.de/img/fotos/origs10620133/1628516338-w630-h472-o-q75-p5/urn-newsml-dpa-com-20090101-190423-99-921508-large-4-3.jpg
dpa/Daniel Karmannbild Ein Bäcker legt in der Backstube eines Betriebs Baguettes aus dem Ofen auf ein Brett.

Analyse unseres Partner-Portals "Economist": Bürgermeister will mit der "Baguette-Strategie" Rechtsextreme schlagen

by

Der folgende Inhalt wird veröffentlicht von The Economist Er wurde von der FOCUS-Online-Redaktion nicht geprüft oder bearbeitet.*

Ein Bürgermeister, der die siebzig schon überschritten hat, lehnt sich gegen den Niedergang des ländlichen Frankreichs auf. Sein Mittel: Das Rathaus verkauft Baguettes und fördert so den sozialen Zusammenhalt.

Es ist Vormittag, doch die kornblumenblauen Fensterläden eines einst fröhlichen Cafés sind verriegelt und rosten vor sich hin. Auch der Lebensmittelladen an der Kirche ist mit Brettern vernagelt, der Putz blättert in der kalten, feuchten Luft ab. Sogar die Boulangerie, die einst den rund 1.100 Einwohnern im Dorf das morgendliche Baguette verkaufte, existiert nicht mehr. Saintines liegt inmitten von Wäldern und Getreidefeldern in Nordfrankreich und veranschaulicht den ländlichen Niedergang – aber auch eine ausgesprochen französische Art, ihn zu bekämpfen.

Autos sind hier wie Baguettes für das tägliche Leben unerlässlich

Abseits der Hauptstraße, vorbei am verlassenen ehemaligen Postgebäude, liegt der Eingang zum Rathaus. Von außen nicht sichtbar, sind drinnen frisch gebackene Baguettes in einem Holzregal hinter einer Theke aufgereiht, die gleichzeitig als Post dient. Kunden können hier Brot abholen, Pakete versenden, sogar die Geburt eines Babys melden. Alles am selben Ort. Jean-Pierre Desmoulins, der 73 Jahre alte Bürgermeister, hat das Brot in den öffentlichen Dienst integriert und das kleine Rathaus zum sozialen Zentrum gemacht. "Es ist ein Treffpunkt entstanden, ein Ort des Austauschs", sagt er. "Manchmal verbringen die Leute hier eine halbe Stunde nur mit Plaudern."

Saintines gehört zu dem, was man ein Frankreich des Übergangs nennen könnte, nichts Halbes und nichts Ganzes: Weder ist es abgelegen genug, damit sich das Dorfleben um die landwirtschaftlichen Jahreszeiten dreht, noch nahe genug an den Großstädten, um als reiner Schlafort zu dienen. Im Laufe der Jahre hat das Dorf sowohl Arbeitsplätze als auch Geschäfte verloren. Die Arbeit in der lokalen Streichholzschachtel-Fabrik verschwand und damit auch die einst lebhaften Cafés. Autos sind hier wie Baguettes für das tägliche Leben unerlässlich. Fast 90 Prozent der Dorfbewohner fahren damit zur Arbeit.

Als Bürgermeister genießt man in Frankreich ein starkes Vertrauen

Das Dorf ist keine Ausnahme. Zwischen 2003 und 2014 schlossen in Frankreich 7.000 Cafés, ein Rückgang von 17 Prozent. Allein in den vergangenen sechs Jahren ist die Zahl der Boulangerien um 18 Prozent auf 30.000 gesunken. In der Folge gehen die täglichen sozialen Kontakte verloren, das Leben wird im Auto verbracht, es entsteht eine neue Form der Einsamkeit. Diese kraftvolle Mischung trug dazu bei, die Gilets jaunes (Gelbwesten) zu mobilisieren, die vor einem Jahr an den Straßenkreuzungen und Kreisverkehren des Landes Lager aufschlugen, zunächst aus Protest gegen eine CO2-Steuer auf Kraftstoffe. Abseits der Gewalt in den Städten entwickelt sich in vielen Orten ein nahezu feierlicher Sinn für Gemeinschaft, der in den autoabhängigen semi-ländlichen Gebieten verloren gegangen war. Heute gibt es in Frankreich mehr Verkehrskreisel als Cafés oder Boulangerien.

Doch bei aller Trostlosigkeit widerlegt Saintines auch den Mythos von Frankreich als einem zentralisierten Land, das von Paris aus regiert wird. Wie fast jedes Dorf im ganzen Land verfügt es über ein eigenes Rathaus, das die Nationalflagge trägt. In Frankreich gibt es 35.000 direkt gewählte Bürgermeister - dreimal mehr als im benachbarten Deutschland. Die Hälfte von ihnen steht Dörfern mit weniger als 500 Einwohnern vor. Und Umfragen zeigen immer wieder, dass die französischen Bürgermeister als die vertrauenswürdigsten aller gewählten französischen Führungspersönlichkeiten gelten.

Desmoulins setzt sich für Glasfasernetzausbau und Cafés ein

Der unparteiische Desmoulins amtiert in Saintines seit 18 Jahren als Bürgermeister. Er sorgt dafür, dass es drei Grundschulklassen und zwei Kindergartengruppen im Dorf gibt, um zu verhindern, dass junge Familien wegziehen. Die Bevölkerung wächst.

Unter der Woche steht der Bürgermeister morgens in seiner Bäckerei im Rathaus und begrüßt die Kunden mit Namen. "Eine Mahlzeit ohne Baguette ist keine richtige Mahlzeit", sagt er.

Nicht jeder Bürgermeister hat eine unternehmerische Ader wie Desmoulins. Viele sind wütend über die Entscheidung der Regierung, die Wohnsteuer abzuschaffen, die bislang einen Großteil ihrer Einnahmen ausmacht - obwohl die Regierung eine direkte Entschädigung verspricht. Vergangene Woche versprach Präsident Emmanuel Macron auf dem Jahreskongress der Bürgermeister in Paris, mit ihnen an einem Strang zu ziehen. Dabei verwies er auf Bemühungen wie den Ausbau von Glasfasernetzen und die Unterstützung eines gemeinnützigen Projekts zur Eröffnung von 1.000 Cafés in kleinen Dörfern. Das Engagement ist nicht rein uneigennützig.

https://p5.focus.de/img/fotos/crop11245803/3352903697-cfreecrop_21_9-w630-h420-o-q75-p5/emmanuel-macron-61424906.jpg
Francois Mori/AP/dpa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron

Bürgermeister will so Kampf gegen rechte Partei gewinnen

Eine Studie des Meinungsforschers Jérôme Fourquet aus dem Jahr 2016 zeigt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Fehlen einer Post, eines Lebensmittelgeschäfts oder Cafés in einem Dorf sowie der Entfernung zum Bahnhof und steigenden Stimmen für den populistischen Front National von Marine Le Pen (heute der Rassemblement National) besteht.

Tatsächlich hatte Marine Le Pen bei den Europawahlen in diesem Jahr in Saintines die Nase vorn. Desmoulins, der im nächsten Jahr erneut bei den Kommunalwahlen kandidieren will, gibt sich nicht geschlagen. Er hat bereits einen Antrag auf Eröffnung eines Cafés gestellt. Kindergartenkinder im Dorf bekommen jetzt Mittagessen in der Schule.

Hinter der Brottheke steht die Rathausmitarbeiterin Brigitte Sraczyk, die früher Klassenzimmer sauber machte, und verkauft etwa 50 Baguettes pro Tag. Sie genießt die sozialen Kontakte genauso wie es ihre Kunden offensichtlich auch tun. "Oh, ich gehe nicht in Geschäfte, an deren Kassen keine Verkäufer mehr stehen", sagt ein Rentner, der von draußen aus dem Regen für ein Baguette und ein Schwätzchen hereinkommt. "Ein ,Bonjour Monsieur, Bonjour Madame‘ jeden Tag hat noch niemandem geschadet."

Dieser Artikel erschien in der Europa-Rubrik der neuesten Printausgabe vom "The Economist" unter dem Titel "A septuagenarian mayor is tackling decline in his corner of rural France" und wurde von Sandra Tjong aus dem Englischen übersetzt. 

Im Video: Kanzlerin fast gestürzt: Zuschauern stockt der Atem, als Merkel ins Stolpern gerät

https://p5.focus.de/img/fotos/crop11401204/7632368709-cv16_9-w630-h354-oc-q75-p5/schreckmoment-merkel-stolpert-5ddfa49c91848700019f550f-1-nov-28-2019-11-49-31-poster.jpg
Im Video: Kanzlerin fast gestürzt: Zuschauern stockt der Atem, als Merkel ins Stolpern gerät

*Der Beitrag "Bürgermeister will mit der "Baguette-Strategie" Rechtsextreme schlagen" wird veröffentlicht von The Economist. Kontakt zum Verantwortlichen hier.

Aktuelle Artikel des Partners auf FOCUS Online lesen

„Ausland“ abonnieren