Kolumne von Lehrer Jan-Martin Klinge: Denkwürdiger Tag: Als es plötzlich still in meiner Klasse war
by FOCUS OnlineEiner meiner Schüler hat geschafft, was ich nur selten schaffe: Es war mucksmäuschenstill in der Klasse. Er hatte mit seinen neuen digitalen Werkzeugen etwas gebastelt, das die Kinder elektrisiert hat. Und mich auch.
Neulich hat Tomáš (Namen aller Kinder geändert) etwas gefragt. „Herr Klinge“, sagte Tomáš, „ich habe ein eigenes Quiz erstellt. Zu Minecraft! Wie kann ich das denn jetzt mit Lukas und Hunor teilen?“
Minecraft? MINECRAFT? Tomáš hatte seine Mitschüler elektrisiert. Und mich auch. Augenblicklich war es still in meiner fünften Klasse. Viel ruhiger, als ich es je erreicht habe.
Unsere Fünftklässler arbeiten mit Tablets statt Heften
Dazu muss man wissen: An meiner städtischen Gesamtschule haben wir uns nach intensiver Vorbereitung entschieden, alle Fünftklässler mit einem Tablet ins Schuljahr zu schicken. In wenigen Worten skizziert sieht unser Konzept vor, die Geräte zunächst als Heftersatz zu nutzen. Die Tablets werden in der ersten Stunde herausgeholt und durchgängig bis zur letzten Stunde um 15.35 Uhr genutzt.
Wo es passt, setzen wir außerdem eine interaktive Multiple-Choice-Software ein: Damit lassen sich leicht Umfragen und Quiz erstellen, zum Beispiel in Mathematik. Meine verrückte fünfte Klasse hat die vier verschiedenen Mathe-Tests – die nicht zur Benotung, sondern zur Selbsteinschätzung dienen - in den letzten Wochen über dreihundert Mal durchspielt.
Vergleichbare Tests stelle ich auch älteren Jahrgängen zur Verfügung – sie nehmen sie aber deutlich zurückhaltender an. Während bei den Kleinen zwischen regulärem Unterrichtsinhalt und dem Quiz nur ein Mausklick liegt, müssen die Großen sich nachmittags extra an den Computer setzen, einloggen, eine Webseite aufrufen - das ist für viele Schüler zu viel Aufwand.
Was ein Augenöffner!
Tomáš war nun, von sich aus, unzufrieden mit dem Status Quo. Ihm reichte es nicht, vom Lehrer vorgefertigte Quiz abzuarbeiten. Er wollte wissen, wie man sie selbst erstellt.
Jan-Martin Klinge
Jan-Martin Klinge ist Lehrer, Vater und Blogger. Auf FOCUS Online schreibt er in loser Folge mit liebevollem Blick über das, was er in der Schule erlebt. Über Kinderfragen, Lehrerprobleme und ein bisschen darüber, was die Bildungspolitik in der Praxis so bedeutet. Übers Leben eben. Mehr von Jan-Martin Klinge finden Sie auf seinem "Halbtagsblog".
Mann! Was ein Augenöffner! Genau da wollen wir als Schule hin!
Jetzt, nach drei Monaten Tablet-Klassen, erinnere ich mich an mehr solcher Momente, die mir zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Die Pflanzen traurig und vertrocknet
Beispiel Blumendienst. Egal wie pflichtbewusst die Mienen zu Beginn auch sind – am Ende der Woche winken die Pflanzen traurig und vertrocknet mit ihren dürren Blättern um Hilfe. Lange geht das nicht mehr gut. Es wird also auch an dieser Stelle Zeit für einen sinnvollen Nutzen der Technik.
Gemeinsam haben wir auf den Computer den Kalender geöffnet – der Bildschirm eines Schülers wurde vorne projiziert. Gemeinsam haben wir einen Serien-Kalendereintrag erstellt und geschaut, dass es zu einer günstigen Zeit losbimmelt und alle Kinder daran erinnert, die Blumen zu gießen.
Spezial: Cyber Monday
Auch in Deutschland purzeln heute ordentlich die Preise. FOCUS Online checkt für Sie die besten Angebote in allen Shops:
Digitalisierung meint bei uns: den Alltag besser bewältigen
Auch hier gilt: Uns erwachsenen Lesern mag es trivial erscheinen, den Kalender zu nutzen – aber auch das muss irgendwann gelernt sein. Digitalisierung meint an unserer Schule die Bewältigung des Alltags leichter, schneller und besser und nicht so sehr den Einsatz von Zauberapps.
Als ich eine Woche später einen Elternbrief austeilte („Bitte bis morgen unterschrieben zurückbringen!“) erstellten einige Schüler direkt eine Erinnerung in ihren Geräten. Von „neuer Technologie“ zu „routiniertem Einsatz“ in wenigen Tagen.
Unterrichtsmaterial für alle Lehrer griffbereit
Das Ziel dieser Arbeit lässt sich im Lehrerzimmer beobachten: Ausgeprägte Teamstrukturen und kooperatives Miteinander prägen unsere Schule. Einzelkämpfer gibt es nicht. Unterricht wird gemeinsam vorbereitet, Projekte auf mehreren Schultern verteilt.
Dabei gibt es nur wenig zeitfressende Konferenzen und stundenlange Sitzungen: Die digitalen Werkzeuge erlauben uns, Arbeitsprozesse zu optimieren: Jeder Ordner und jedes Dokument ist jederzeit und überall griffbereit.
Bildungsreport
Gesellschaftlicher Wohlstand und ein selbstbestimmtes Leben - dafür brauchen wir höchste Bildungsstandards – nicht nur für privilegierte Schichten. Im Bildungsreport zeigt FOCUS Online, vor welchen Herausforderungen Deutschland steht. Und stellt Menschen, Ideen und Projekte vor, die unsere Kitas, Schulen und Universitäten besser machen.
In einigen Jahren werden wir Selbiges hoffentlich auf dem Schulhof beobachten: Schüler, die gemeinsam lernen und tolle Projekte realisieren, die heute undenkbar scheinen.
Die ganze Welt wird zum Klassenzimmer
Wo wir im vergangenen Jahr mit einem Computer und einem Beamer aus einem Klassenraum mit Schülern aus Portugal oder Papua-Neuguinea geskypt haben, können wir in Zukunft 1:1 Gespräche realisieren: Jeder Schüler an seinem Gerät mit seinem eigenen Austauschpartner aus anderen Ländern. Die ganze Welt wird zum Klassenzimmer.
Heute, nach einem Quartal, bin ich von dem digitalen Ansatz mehr denn je überzeugt.
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