Der Run auf neue Möglichkeiten
Sandra Pragmann zum Tag des Ehrenamts über Vorstände und bürgerschaftliches Engagement - Von Nina Baucke
by Nina BauckeBremervörde. Die Fahrten des Bürgerbusses, das Training der Kinder-Fußballmannschaft, die Lebensmittelausgabe bei der Tafel, das Vorlesen für Patienten im Krankenhaus, das Klavierkonzert im Heimathaus, die Jugendfreizeit der Kirchengemeinde: Vieles geht nicht ohne Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Daran erinnert einmal jährlich der Internationale Tag des Ehrenamts, den die UN 1985 ins Leben gerufen hat. Wie wichtig das Ehrenamt im Landkreis Rotenburg ist, darüber hat sich die Rundschau mit Sandra Pragmann von der Koordinierungsstelle für ehrenamtliche Arbeit unterhalten.
Am 5. Dezember ist Internationaler Tag des Ehrenamts. Ist so ein Tag überhaupt nötig?
Sandra Pragmann: Ja, ich finde es wichtig, dass man das immer wieder groß aufhängt – überregional, aber auch, das regional Spots gesetzt werden, um die Vielfalt zu zeigen. Wir wollen Menschen entspannt und locker mit dem Thema in Berührung bringen und zum Nachdenken anzuregen, ohne gleich den Finger zu heben und zu sagen: Du musst dich aber engagieren. Statt dessen soll sichtbar sein: Das können Ehrenamtliche in ihrer Gesamtheit schaffen.
Über welche Art Ehrenamt sprechen wir dabei?
Pragmann: Besser ist der Begriff bürgerschaftliches Engagement, das schließt alle mit ein. Auch die „Nichtgewählten“, diejenigen, die sich nicht auf lange Zeit binden wollen, wie bei der Feuerwehr, im Sportverein, in der Kirche oder als Schiedsrichter. Es sind die, die im Dorf beim Weihnachtsmarkt helfen oder einmal im Monat den Bürgerbus fahren. Viele Möglichkeiten sind aber der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Auch ältere Menschen, die uns als Koordinierungsstelle anrufen, sind immer wieder überrascht, was es so gibt. Es muss nicht immer Gemeinde oder Feuerwehr sein!
Wie sieht die Altersstruktur aus?
Pragmann: Es heißt immer: Die Jungen, die machen nichts. Dabei ist bei den Jugendlichen die Bereitschaft, sich zu engagieren, sehr hoch, mehr als jeder Dritte ist da aktiv. Sie sind statistisch gesehen engagierter, als die Ü65er, und das in den Sportvereinen und in der Jugendfeuerwehr. Viele haben einen kirchlichen Bezug, machen die Juleica. Aber das alles nehmen die Älteren oft nicht so wahr. Sie fragen sich nur, warum mal wieder kein Jüngerer den Vereinsvorsitz übernimmt.
Sieht man die Jüngeren weniger?
Pragmann: Sie haben weniger Chance, gesehen zu werden, denn die Älteren drängeln sich in der Berichterstattung gerne mal vor. Wir haben Beispiele aus der Dorfentwicklung, wo sich ehrenamtliche Moderatoren einbringen. Aber in der Zeitung werden dann die Bürgermeister genannt, nicht die Ehrenamtlichen. Das ist so ein Fehler im System, dass diejenigen hochgehalten werden, die immer hochgehalten werden. Aber die Neuen, die Prozesse anschieben, werden nur am Rand mit aufs Foto genommen, und dann ohne Namen.
Gibt es da Nachholbedarf?
Pragmann: Definitiv. Vereine sollten mal „die anderen“ vorlassen. Es muss mehr Fokus auf die Jugendlichen und die jungen Erwachsenen und diejenigen in den nicht gewählten Ämtern gelegt werden. Denn da gibt es momentan sehr viele, die sich engagieren.
Wenn wir über die Altersstrukturen sprechen: In Gemeinderäten sitzen oft wieder eher die Älteren.
Pragmann: Da sind im Grunde die mit ganz, ganz viel Freizeit oder der Möglichkeit, dieses Ehrenamt mit dem Job oder der Selbständigkeit vereinbaren zu können. Aber wer kann das schon? Weil die Ausübung oft tagsüber stattfindet. Das ist so zeitaufwändig, dass das abschreckt oder für den Einzelnen unmöglich ist. Dazu kommen konservative Strukturen, in denen viele nicht loslassen können. Bei der Dorfentwicklung sehen wir, dass einiges an Bereitschaft da ist, die Zeiteinteilung ist flexibler. Davon fühlen sich vor allem viele Frauen unter 50 Jahren angesprochen. Für uns zeigt sich, dass wir dort einen Nerv getroffen haben, wogegen sich klassische Gemeinderatsarbeit oft nur schwer einrichten lässt. Es ist ja verständlich, dass jemand, der Beruf und Familie an den Hacken hat, sich nicht auch noch vier Stunden Kommunalpolitik pro Woche ans Bein binden möchte.
Viele sagen ja: „Ich würde mich ja engagieren, wenn ich die Zeit hätte“. Hält Zeitmangel viele ab?
Pragmann: Die, die zu uns kommen, haben schon eine klare Vorstellung, welches Zeitfenster sie bieten können, aber die sind ohnehin schon zum Engagement bereit. Aber es gibt natürlich auch viele, die das als Entschuldigung vorschieben. Denn wenn man ehrlich sagt, man habe keine Lust dazu, gilt man für viele gleich als ein schlechter Mensch. Dennoch finden wir oft heraus, dass tatsächlich die Zeit viele daran hindert, bestimmte Ehrenämter zu machen. So etwas wie der Bürgerbus, Projektarbeit beim Nabu oder Ausgabe bei der Tafel ist daher wieder attraktiv: Es gibt feste Zeiten, die sich planen lassen. Bei einer Vorstandsarbeit lässt sich das nicht so einfach greifen, da werden aus zwei Stunden pro Woche schnell sechs. Menschen, die sich noch nie engagiert haben, wissen ganz oft einfach nicht, was alles so möglich ist. Von daher ist es gut, dass wir zeigen können: Es kann auch anders sein. Und das ist wichtig, weil wir die Ehrenamtlichen hier im ländlichen Raum brauchen.
Gibt es denn Bereiche, in denen ohne nichts mehr gehen würde?
Pragmann: Ja, fast überall. Im Freizeitbereich, Sport, Kultur, Brand- und Katastrophenschutz, aber auch dort, wo die Familie wegbricht – Stichwort Mobilität: Früher haben die Jungen die Alten gefahren oder andersherum, jetzt nicht mehr. Deswegen gibt es aus meiner Sicht die Bürgerbusse, und nicht weil der ÖPNV weggefallen ist. Und die Familie hat sich verändert, die Frauen gehen arbeiten. Diese Veränderungen können wir nur gesellschaftlich auffangen, damit weiterhin die Freiwilligkeit und damit die Herzlichkeit da sind. In fast allen Bereichen gibt es bei uns im ländlichen Raum wenig Strukturen, hinter denen kein e.V. steckt. Wir bräuchten eine Berufs- oder Pflichtfeuerwehr, staatliche Kulturhäuser, Sportmöglichkeiten in Zentren und Treffpunkten, die staatlich finanziert oder von Firmen getragen werden. Als 2015 die Geflüchteten kamen, wäre es ohne Freiwillige nicht gegangen. So wie Integration nur mit Menschen funktioniert.
Bei der Tafel, im Bürgerbusverein: Erfüllen Ehrenamtlicher teilweise schon öffentliche Aufgaben?
Pragmann: In Sachen ÖPNV zum Beispiel muss sich die Politik schon Gedanken machen, auch angesichts der Klimaschutzdebatte. Aber ich würde nie sagen: Diese oder jene Aufgabe muss der Staat lösen. Wir sehen in vielen Bereichen, dass man auch die Bevölkerung in die Pflicht nehmen muss. Denn gerade in der Freizeit hat man die Möglichkeit, Dinge herzlicher zu tun, denn tut es der Staat, fällt oft das Zwischenmenschliche weg. Auch der Bürgerbus steht ja mehr für eine soziale Komponente, als für den ÖPNV. Das Herzblut, das Zeithaben, gegenseitig auf sich Acht zu geben, das ist in der Freiwilligkeit einfacher.
Wie sieht die Entwicklung der Zahlen aus?
Pragmann: An allen Ecken und Enden fehlen Leute. Aber das liegt nicht nur an mangelnder Bereitschaft: Heute wollen auch die, die fit in Rente gehen, weniger einen Vorstandsposten, sondern stattdessen etwas tun, wo sie sofort eine Resonanz bekommen. Die Vereine werden daher in den nächsten Jahren erhebliche Probleme bekommen. Von den vielen 1.000 Vereinen, die wir so haben, wird es in zehn Jahren einige nicht mehr geben. Manche Vereinszwecke überleben sich, manche sind nicht mehr attraktiv. Dazu kommt, dass der Job im Vorstand nicht jedem liegt. Man wird oft wie ein Bezahlter behandelt und mit Ansprüchen konfrontiert. Dafür haben viele Leute keinen Nerv. Allerdings die Vorstände, die etwas auf den Weg bringen, die offen sind, die sich immer wieder frisches Blut geholt haben, die werden überleben. Wir hoffen, dass sich mehr Vereine untereinander austauschen, dass es sich herumspricht, wie es gut laufen kann. Denn wer sich nicht verändert, wird weniger, bis am Ende der Letzte zum Abschließen kommt. Die Menschen gehen vor allem zu den neuen Möglichkeiten: die Tafelbewegung, ins Kulturengagement. Sie fahren Bürgerbus und sind in den Bürgerbewegungen und fühlen sich dort eher abgeholt. Gleichzeitig melden sich bei uns Menschen, die zum Beispiel in einem Verein Kassenwart, Büroarbeit und die Verwaltung machen wollen, wozu viele andere oft keine Lust haben. Wir telefonieren dann die Vereine ab – und keiner hat Interesse. Da fällt dann der Satz: „Sie wissen ja – die Ehrenamtlichen machen nur Arbeit.“ Es ist schwer, als Externer irgendwo reinzukommen.
Welchen Stellenwert hat das Ehrenamt in der Öffentlichkeit?
Pragmann: Es hat aus Landkreissicht eine hohe Priorität, weil wir die Erfahrung haben, wie viel es bringt. In der Öffentlichkeit ist es viel zu wenig Thema, dort braucht es noch viel mehr Wertschätzung. Und auf politischer Ebene muss das noch mehr nach oben, dass die „Nichtgewählten“ noch mehr wahrgenommen werden. Ganz oft heißt es: Das ist doch einfach Nachbarschaftshilfe. Das ist egal: Da geht eine Frau immer zu einer anderen und liest ihr die Zeitung vor. Das ist einfach klasse!
Braucht es noch mehr Rückhalt?
Pragmann: Ja. Es müssen solche Geschichten immer wieder erzählt werden. In ihrem Umfeld erfahren engagierte Menschen oft schon Wertschätzung. Doch ich finde es wichtig, dass es alle sehen. Oder sie zumindest das Gefühl haben, es sehen alle. Die Helfer bei den Geflüchteten haben immer wieder auch Ressentiments erfahren. Da haben wir gemerkt, wie viel es bringt, wenn einer auch mal was Nettes sagt. Denn das haben sie immer sofort ganz glücklich weitererzählt. Ehrenamt wird oft als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Und wenn es wegbricht, gibt es großes Geschrei.
Welche Aufgaben hat dabei die Koordinierungsstelle?
Pragmann: Wir versuchen, die, die sich interessieren, zu informieren und zu beraten. Wir werben dafür, dass Vereine uns mitteilen, wenn sie irgendjemanden für etwas suchen. Wir machen die, die sich interessieren, fit, ermöglichen ihnen, Netzwerke zu knüpfen. Es gibt Seminare und Workshops. Mit der Dorfmoderation haben wir Leute ausgebildet, die die Dorfentwicklung mitgestalten. Da, wo etwas passiert, sehen wir: Menschen ziehen dort hin, in den Dorfgemeinschaftshäusern entstehen Dinge, Dorfvereine machen sich auf den Weg. So etwas brauchen wir viel mehr.
Was bringt einem Freiwilligen die Arbeit?
Pragmann: Es ist schön, wenn man am Ende des Tages sieht: Ich habe etwas Gutes getan, ich freue mich immer wieder auf die Menschen um mich herum. Ich habe etwas Kleines verändert: Die Oma ist nicht mehr einsam, der Junge ist wieder ein bisschen besser im Fußball geworden. Natürlich gibt es immer Tage, an denen es keinen Spaß macht. Aber man kann sich selbst weiterentwickeln, und dafür braucht es viel Persönliches. Sonst wird das nichts.
Ehrenamt im Landkreis
Bricht man die Zahlen des Landes Niedersachsen auf den Landkreis Rotenburg herunter, engagieren sich von 161.000 Einwohnern 66.000 Menschen ehrenamtlich. „Dazu heißt es ja immer, dass zehn Prozent darüber hinaus zu ehrenamtlicher Arbeit bereit wären“, sagt Sandra Pragmann. „Wir haben also noch Reserve, auf die wir uns stützen können. So sind es mehr als 1.000 Menschen im Bereich der Babyboomer.“ Die Bremervörderin betreut die Koordinierungsstelle für ehrenamtliche Arbeit beim Landkreis Rotenburg. Sie selbst ist ebenfalls ehrenamtlich tätig – als Trainerin der Kinder-Handballmannschaft im TSV Bremervörde und seit 20 Jahren als Schiedsrichterin.