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Privat/AdobeStock/iStock/Composing: Sascha Weingartz Die bei einem Unfall ums Leben gekommene Alina.

Verzweifelter Überlebenskampf: In Todesangst Handbremse gezogen: Alina (16) und ihr Freund sterben durch Suff-Raser

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Stuttgart, München, Berlin – wenn es dort zu tödlichen Raser-Unfällen kommt, spricht ganz Deutschland darüber. Aber wenn in der brandenburgischen Provinz zwei Jugendliche bei einem unfassbaren Drama sterben, scheint es kaum jemanden zu interessieren. FOCUS Online über einen Fall, der traurig und wütend macht.

Das Unfassbare geschah nachts. In Schönefeld, einer Gemeinde südöstlich von Berlin, bekannt für ihren Flughafen.

Auf einer einsamen Straße starb ein Mädchen. Alina. Sie war knapp einen Meter siebzig groß, hatte lange dunkelblonde Haare. Eine Jugendliche von 16 Jahren mit strahlend grau-blauen Augen. Verliebt. Glücklich. Neugierig auf das Leben.

Feuerwehrleute ziehen Schülerin aus zerstörtem Auto

Mehr als ein Jahr ist es her, dass Feuerwehrleute die Schülerin aus einem völlig zerstörten Auto zogen, dass ein Notarzt sich ihrer annahm, dass Mitarbeiter eines Bestattungshauses sie abtransportierten, dass die Eltern einen Platz auf dem Friedhof suchten, dass die Staatsanwaltschaft Cottbus ein vierzehnstelliges Aktenzeichen anlegte.

Seitdem haben Ermittler verschiedenster Fachrichtungen untersucht, warum Alina und ihr Freund, der 20 Jahre alte Billi, sterben mussten. Was die Experten, darunter Kriminaltechniker, Rechtsmediziner und ein Unfallgutachter, herausgefunden haben, lässt einen erschaudern.

Betrunken, ohne Führerschein: Horrorfahrt endete an Baum

Demnach saß das junge Paar am 26. Oktober 2018 arglos in einem stehenden Auto, als ein betrunkener Kumpel, der keinen Führerschein besaß, auf den Fahrersitz kletterte und losraste. Die Horrorfahrt endete nach wenigen hundert Metern an einem Baum.

Das Dramatische: Offensichtlich versuchten die um ihr Leben fürchtenden Alina und Billi, den Wagen zu stoppen, indem sie die Handbremse zogen – vergeblich. Sie starben noch an der Unfallstelle.

Der 18 Jahre alte Martin (Name von der Redaktion geändert), der nach Überzeugung der Ermittler am Steuer des grauen Audi A4 saß, überlebte.

Polizei: Unfall-Verursacher soll vom Tatort geflüchtet sein

Laut Polizeiakten flüchtete er vom Tatort und ließ sich von Helfern versorgen. Zu seinen Verletzungen erklärte er, Unbekannte hätten ihn zusammengeschlagen. Eine Schutzbehauptung – man könnte auch sagen: eine Lüge – die von den Fahndern schnell durchschaut wurde.

Die Staatsanwaltschaft Cottbus leitete gegen Martin ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung ein, wobei die Ermittlungen so gut wie abgeschlossen sind. Mit einer Entscheidung über die Anklageerhebung sei „in den nächsten Wochen“ zu rechnen, sagte der Cottbuser Oberstaatsanwalt Gernot Bantleon zu FOCUS Online.

Nach Erkenntnissen der Strafverfolger trug sich am 26. Oktober 2018 folgendes zu:

"Stopp, haltet an!"

In den frühen Morgenstunden fuhr eine Clique aus fünf jungen Leuten in einem Audi durch das Berliner Umland. Im Schönefelder Ortsteil Kleinziethen wurde einem auf der Rückbank sitzenden 18-Jährigen schlecht, weil er zu viel Alkohol getrunken hatte. Der nüchterne Fahrer fuhr rechts ran, schaltete den Motor ab und stieg zusammen mit dem 18-Jährigen aus. Den Schlüssel ließ er im Zündschloss stecken.

Während die beiden auf ein angrenzendes Feld liefen, heulte plötzlich der Motor auf – und das Auto raste extrem schnell davon. Vergeblich versuchten die beiden zuvor ausgestiegenen Männer, eine mögliche Katastrophe zu verhindern  („Stopp, haltet an!“) und ihre Freunde auf dem Mobiltelefon anzurufen. Schließlich liefen sie dem Auto auf einer Allee hinterher.

Schreie, hochgerissene Arme

Nach einigen Minuten fanden sie den Audi am Straßenrand – völlig demoliert, zerschellt an einem dicken Baumstamm. Die Heckklappe war abgerissen, überall lagen Trümmerteile. Die Fahrertür stand offen. Alina kauerte – noch angeschnallt – reglos auf dem Beifahrersitz, Billi auf der Rückbank.

Die unter Schock stehenden Freunde wählten den Notruf. Gegen 3.22 Uhr stoppten sie schreiend und mit hochgerissenen Armen einen zufällig vorbeifahrenden Streifenwagen der Polizei. Feuerwehr und Notarzt waren schnell da.

Nicht mehr da war: der mutmaßliche Todesraser.

Im Video - Polizei warnt mit Video: PKW-Fahrer verliert Kontrolle und fliegt von Brücke

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Im Video - Polizei warnt mit Video: PKW-Fahrer verliert Kontrolle und fliegt von Brücke

 

Mutmaßlicher Todesraser sucht Hilfe - für sich selbst

Martin hatte den Unfallwagen nach Überzeugung der Ermittler fluchtartig verlassen, ohne einen Notruf abzusetzen und sich um die Opfer zu kümmern. Stattdessen klingelte er an der Haustür eines Ehepaars und bat um Hilfe – für sich selbst.

Er wimmerte über eine Platzwunde am Kopf und Schmerzen an Schlüsselbein und Oberschenkel. Die Verletzungen, behauptete Martin, habe er sich bei einer Prügelei zugezogen. Ansonsten könne er sich an nichts erinnern. Während er sein Leid klagte, drehte er das Gesicht bewusst weg, den Kopf versteckte er unter einer Kapuze.

Reichlich Alkohol: Zwei Stunden nach Unfall 1,13 Promille

Als der von dem Ehepaar gerufene Rettungswagen eintraf, tat Martin so, als habe er mit dem Autounfall ganz in der Nähe nichts zu tun. Auch auf Nachfrage gab er sich ahnungslos. Allerdings nahmen die Sanitäter bei ihm Schnapsgeruch wahr. Bei einer Blutuntersuchung zwei Stunden nach dem Unfall stellte man eine Alkoholkonzentration von 1,13 Promille fest.

FOCUS Online liegt das 66-seitige Unfallgutachten vor, das ein Sachverständiger im Auftrag der Staatsanwaltschaft erstellt hat. Die Befunde lassen auf ein hochdramatisches Tatgeschehen schließen – und darauf, dass die Opfer verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatten.

Gutachter: Auto technisch einwandfrei, aber viel zu schnell

Zunächst die Fakten: Der verunfallte Audi, Baujahr 1997, Kilometerstand 133.480, war technisch einwandfrei. Reifen, Bremsbeläge, Bremsschläuche, Bremsleitungen, Hydrauliksystem – alles in Ordnung. Bremsflüssigkeit war ausreichend vorhanden. Der Gutachter stellte keine „Funktions- oder Wirkbeeinträchtigungen“ fest.

Eine Rekonstruktion der Todesfahrt ergab, dass der Audi vor dem Unfall mit einer Geschwindigkeit von 111 bis 124 km/h unterwegs war und schließlich mit Tempo 51 bis 61 seitlich in den Baum krachte. Kurz zuvor war der Wagen auf absolut gerader und trockener Strecke in eine „Drift- und Schleuderbewegung“ geraten.

Bei hohem Tempo Handbremse gezogen: 114-Meter-Reifenspur

Ursache dieses Drehens waren laut Dekra die blockierten Hinterräder. „Offensichtlich“, so der Sachverständige, war während der Fahrt „die Feststellbremse des Fahrzeugs betätigt“ worden, möglicherweise „als Abwehrmaßnahme gegen die schnelle Fahrt“.

Auf Deutsch: In ihrer Todesangst hatten Alina und Billi – oder einer von beiden – die Handbremse des Autos angezogen, während der betrunkene Fahrer weiter Gas gab, gegenlenkte und so die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Durch die bis zum Anschlag angezogene Handbremse blockierte die Hinterachse. Die Reifenspur auf der Straße war exakt 114 Meter lang.

Experte: Reguläres Abbremsen hätte Unfall verhindern können

Nach Einschätzung des Gutachters hätte das Anziehen der Handbremse den Unfall tatsächlich verhindern können – wenn der Fahrer nicht gleichzeitig beschleunigt und sich stattdessen an die innerorts geltende Höchstgeschwindigkeit gehalten hätte. Ein reguläres Abbremsen hätte das Auto „zum Stehen gebracht“, so der Experte. 

Die Aussagen der Jugendlichen, die ursprünglich mit im Auto gesessen hatten, führten die Ermittler sehr schnell zu Martin.

Mutmaßlicher Todesfahrer: Verletzungen nicht von Prügelei

Der 18-Jährige war aufgrund seiner Verletzungen mit einem Helikopter ins Unfallkrankenhaus Berlin-Marzahn geflogen und dort behandelt worden. Die zuständige Staatsanwältin veranlasste, dass der Patient, den sie in den Akten bereits als „Beschuldigter“ führte, eingehend begutachtet wird. Zudem ließ sie die Behandlungsunterlagen der Klinik beschlagnahmen.

Eine rechtsmedizinische Untersuchung ergab, dass Martins Verletzungen nicht von einem Sturz oder einer Prügelei – wie er es behauptet hatte – stammen. Vielmehr könne das Verletzungsbild einem Unfallgeschehen zugeordnet werden, heißt es in den Akten. Offenbar war Martin beim Aufprall des Autos mit seinem Kopf gegen den Kopf der neben ihm sitzenden Alina geknallt.

Beschuldigter verweigert zunächst Abgabe einer DNA-Probe

Der mutmaßliche Täter zeigte von Anfang an wenig Bereitschaft, an der Aufklärung des Kriminalfalls mitzuwirken. Bis heute hat er sich gegenüber den Ermittlern nicht zu den Vorwürfen geäußert.

Als ihn die Staatsanwaltschaft zur Abgabe einer DNA-Probe aufforderte, verweigerte er dies und bestand auf einem richterlichen Beschluss. „Mittlerweile liegen uns zwei Speichelproben des Beschuldigten vor“, so Oberstaatsanwalt Bantleon zu FOCUS Online.

Das Material wird nun mit DNA-Spuren verglichen, die unter anderem am Lenkrad und am Schaltknauf des Unfallwagens gesichert worden waren. So soll herausgefunden werden, ob Martin zweifelsfrei der Todesfahrer war. Die Ergebnisse der Untersuchung stehen noch aus, doch auch ohne sie ist eine Anklageerhebung möglich - wenn ausreichend Anhaltspunkte für eine Täterschaft vorliegen. 

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GERICHTSREPORT: EIN JAHR IN DEUTSCHLANDS GERICHTEN

Wie sieht der Alltag in Deutschlands Justiz wirklich aus? Was läuft nicht rund? Wie geht es besser? FOCUS Online ist 2019 in Gerichten unterwegs: Dort, wo normale Menschen um ihr Recht kämpfen. Wo spektakuläre Prozesse laufen. Wo Deutschland sein Versprechen einlösen muss, ein Rechtsstaat zu sein. Unsere Reporter sprechen mit Richtern, Staatsanwälten, Angeklagten, Opfern und Zeugen.

In unserem Justiz-ABC erklären wir die wichtigsten Begriffe aus der Justiz. Und hier finden Sie alle Artikel des Gerichtsreports.

Schildern auch Sie uns, was Sie im Umgang mit Staatsanwälten oder Richtern erlebt haben. Vielleicht entsteht daraus eine Geschichte. Mailen Sie uns an: mein-fall@focus.de.

"Reuelos": Opfer-Angehörige kritisieren den Verdächtigen

Die Familien, Freunde und Bekannten der beiden Verstorbenen sind bis heute tieftraurig, fassungslos und wütend – über den Unfall, aber auch über das Verhalten des mutmaßlichen Verursachers.

In einem Polizeivermerk steht, dass die Angehörigen das Auftreten des Beschuldigten nach der Tat als „reuelos“ und „unzumutbar“ empfanden. Statt den Hinterblieben sein Beileid auszusprechen, habe er „Selbstdarstellungen in den sozialen Medien“ betrieben. Als sie erfuhren, dass er zur Beisetzung und zur anschließenden Trauerfeier kommen wollte, schalteten sie die Polizei ein.

Kripobeamte führten daraufhin eine schriftliche Gefährderansprache durch, drohten ihm weitere Maßnahmen an – und hielten den Mann so von der Trauergemeinde fern. Gegenüber FOCUS Online wollten sich weder der mittlerweile 19-jährige Beschuldigte noch dessen Rechtsanwalt äußern.

Alinas Vater: "Nichts macht meine Tochter wieder lebendig"

Auch der Vater von Alina möchte im Moment nicht über die Tragödie sprechen. Zu tief sitzt der Schmerz, noch heute, mehr als einem Jahr nach dem Unfall. Nur so viel: „Eine gerechte Strafe wird es niemals geben. Nichts macht meine Tochter wieder lebendig.“

Seine innere Stimme sage ihm, dass die Ermittlungen nicht wegen fahrlässiger Tötung geführt werden müssten, sondern wegen Mordes, sagt der Vater. Aber er sei kein Jurist. Manchmal habe er das Gefühl, dass in Deutschland Steuersünder härter bestraft werden als Menschen, die einen anderen Menschen umgebracht haben.

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Die Fettleber-Diät: Was Sie essen müssen, um Ihre Leber zu entgiften

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